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Uta Meier, Heide Preuße u.a.: Steckbriefe von Armut. Haushalte in prekären LebenslagenUta Meier u.a.: Steckbriefe von Armut

Uta Meier, Heide Preuße, Eva Maria Sunnus: Steckbriefe von Armut. Haushalte in prekären Lebenslagen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2003. 372 Seiten. ISBN 3-507-14143-0. 24,90 EUR, CH: 43,70 SFr.


Einführung in die Themenstellung

Nach dem Regierungswechsel im Jahre 1998 hat die Armutsberichterstattung und -prävention in Deutschland eine neue Bedeutung und sogar eine gesetzliche Grundlage bekommen. Die Erstellung der offiziellen Armutsberichte wurde von vielen weiteren Forschungsprojekten begleitet. Beispielsweise initiierte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ein "Maßnahmenkonzept zur Armutsprophylaxe", das unter dem Leitthema "Armutsprävention und Milderung defizitärer Lebenslagen durch Stärkung der Haushaltsführungskompetenzen" stand (S. 13). Dort war das Projekt "Haushaltsführung im Versorgungsverbund der Daseinsvorsorge - Stärkung von Haushaltsführungskompetenzen durch Aufzeigen von Handlungsalternativen" angesiedelt, aus dem die vorgestellte Veröffentlichung hervorgegangen ist, die einen - im Vergleich - angenehm unsperrigen Titel trägt: "Steckbriefe von Armut".
Die Grundidee des Projektes, das mit der Armutsberichtserstattung der Stadt Gießen verbunden wurde und das von Ökotrophologinnen / Haushaltswissenschaftlerinnen des "Instituts für Wirtschaftslehre des Haushaltes und Verbrauchsforschung" durchgeführt wurde, bestand darin, die Lebenssituation von durch Armut bedrohter und betroffener Haushalte durch ExpertInnen- und Betroffeneninterviews nachzuzeichnen, um "praktikable und alltagstaugliche Unterlagen für die Bildungs- und Beratungsarbeit mit Privathaushalten in prekären wirtschaftlichen und sozialen Lebenslagen" (14) zu erstellen und Forderungen und Empfehlungen an die Politik zu formulieren.


Aufbau und Inhalt

Nach einer kurzen und übersichtlichen Einführung in das Thema wird der Stand der Armutsforschung auf 20 Seiten dargestellt. Unter der Überschrift "Hilfekonzepte der Sozialen Arbeit in Theorie und Praxis" wird kurz auf die gesetzlichen Regelungen des BSHGs und des KJHGs eingegangen, um zu zeigen, dass im Rahmen der bestehenden Interventionslandschaft haushaltswirtschaftliche Projekte eine Lücke schließen. Im Anschluss daran wird der eigene "mikrosozialökonomische", "ressourcen- und lebenslagenorientierte" (49) Forschungsansatz eingeführt.
Der empirische Teil der Untersuchung wurde in Gießen durchgeführt. Er beginnt mit 13 Leitfadeninterviews mit MitarbeiterInnen von sozialen Einrichtungen, der Verwaltung und einer Bank zu Fragen der Armutsdefinition, den Auswirkungen der augenblicklichen gesellschaftlichen Entwicklung in Bezug auf Armut auf die Haushaltsführungs-Kompetenzen, die sozialen Netzwerke und die finanzielle Situation der von Armut Betroffenen sowie zum Beratungs- und Hilfeangebot der Stadt Gießen. Bereits in diesen Interviews zeigt sich deutlich, in welchem Ausmaß (finanzielle) Armut mit Überforderung, dem Zusammenbrechen von Netzwerken, hoffnungsloser Überschuldung und mit fehlender Haushaltsführungskompetenz einhergeht und massive psychische Probleme, Krankheit sowie die Vernachlässigung der Kinder etc. nach sich zieht.
Die Experteninterviews wurden durch Einzelfallstudien ergänzt, die auf Grund einer sogenannten "Haushaltsanalyse" durchgeführt wurden. Neben allgemeinen Fragen zur Haushaltführung und besonderen Problemen wurden in Leitfadeninterviews mit den Betroffenen auch genaue Informationen zu Einnahmen und Ausgaben des Haushaltes und zur Zeitverwendung der einzelnen Mitglieder erhoben. Für die Analyse wurden alle Daten akribisch aufbereitet und mit einer eigens für diese Anwendung erstellten Software verarbeitet. Die Mischung aus qualitativen und quantitativen Methoden gestattet es, für die 22 untersuchten Haushalte detaillierte Profile anzufertigen, die jeweils durch einen "fachlichen Kommentar" ergänzt werden. Der Vielfalt der Problemstellungen konnte so Rechung getragen werden. Anschließend werden die Haushalte anhand verschiedener Kriterien wie Mietbelastung, Wohnungsgröße, Bildung, Gesundheit, psychosozialer Situation etc. verglichen. Das Fazit umfasst eine Typenbildung in "verwaltete Arme", "erschöpfte EinzelkämpferInnen", "ambivalente JongleurInnen" und "vernetzte Aktive". Ein kurzer Anhang gibt die beiden Leitfäden wieder.


Diskussion

Durch die außergewöhnliche Methoden-Kombination gelingt es in dieser Untersuchung sehr umfassende und lebensnahe Abbilder des Lebens und der Probleme der betroffenen Personen und Familien zu erzeugen. In ihrer Direktheit und Neugierde erinnert die Untersuchung an die Marienthal-Studie von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel. Sie berichtet auch von ähnlichen Phänomenen, beispielsweise, dem Verlust des Zeitempfindens beim Zusammenbruch der Tagesstruktur. Ersichtlich wird, wie komplex die Ursachen von Armut sind und welche Auswirkungen sie in den verschiedenen Lebensbereichen haben kann. Vor allem im einleitenden, theoretischen Teil und in den "fachlichen Kommentaren" zu den einzelnen Fällen werden in vielen Anmerkungen die Zusammenhänge zwischen den Einzel-Schicksalen einerseits und der Struktur des Hilfesystems und des Systems der Sozialen Sicherung andererseits aufgezeigt, wenn auch nicht systematisch aufgearbeitet.
Bei dieser nahezu perfekten Studie bleiben nur einige Bilder zu kritisieren, die wahrscheinlich durch ein interdisziplinäres Team besser gelöst worden wären: So wirkt es originell, dass die Soziale Arbeit in erster Linie als Umsetzungsinstanz des BSHG und KJHG eingeführt wird. Des Weiteren sind im Expertenfragebogen einige Fragen sehr suggestiv formuliert - beispielsweise die Frage, ob "die Probleme der Menschen gelöst würden, wenn man in erster Linie für eine Erhöhung des Einkommens sorgen würde, z.B. der Familie 500,- DM zusätzlich im Monat gäbe" (vgl. 86). Die verneinenden Antworten könnten den Eindruck erwecken, dass man Sozialleistungen beliebig zurückfahren kann, da finanzielle Ressourcen nicht entscheidend sind. Störend ist auch, dass ähnliche, moralisierende "Expertenmeinungen" unreflektiert bleiben, so zum Beispiel das Entsetzen über die jungen "unverantwortlichen" Mütter und über den "verwerflichen" Erwerb der teuren Turnschuhe (94). Gerade von Armut Betroffenen wird die Achtung in dieser Gesellschaft entzogen und die teuren Turnschuhe können in diesem Sinne eine nachvollziehbare Investition in ihr Sozialprestige darstellen. Die ideologischen Hintergründe des politischen Spardiskurses und der verordneten Bescheidenheit bleiben jedenfalls ungenannt - und so können wir bei der Lektüre fast Geschmack finden an den täglichen Kämpfen für die Sparsamkeit. Wir müssen uns die Hauswirtschaftlerin als einen glücklichen Menschen vorstellen.


Fazit

Diese rundum gelungene Untersuchung bietet tiefe Einblicke in das Leben der von Armut Betroffenen und in ihre Einbettung in das Hilfesystem. Es bietet damit einen Kontrapunkt zu vielen Armutsberichten, denen vor lauter Zahlen jegliches Bewusstsein für die Phänomenologie von Armut fehlt. Dadurch eignet sich das Buch für alle, die sich mit diesem Thema intensiv beschäftigen wollen. Die Untersuchung selbst legt auch die Komplexität des Netzwerkes "Soziale Dienste" - hier der Stadt Gießen - dar, wobei allerdings die (lokalen) politischen Institutionen nicht beachtet wurden. Sonst wäre es vielleicht auffallen, dass der Name des Projektes "Haushaltsführung im Versorgungsverbund der Daseinsvorsorge - Stärkung von Haushaltsführungskompetenzen durch Aufzeigen von Handlungsalternativen" ironisch wirkt, wenn das Ende der Daseinvorsorge schon lange eingeläutet wurde.


Die Rezension ist zuerst erschienen unter: www.socialnet.de/rezensionen/3444.php


Alban Knecht
Im April 2006




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