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Wolfgang J. Fellner: Das Ökonomische im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie. Lebensstandard bei Amartya K. Sen und Hugo E. Pipping

Wolfgang J. Fellner: Das Ökonomische im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie. Lebensstandard bei Amartya K. Sen und Hugo E. Pipping. Lit Verlag (Münster) 2005. 176 Seiten. ISBN 3-8258-8498-8. 19,90 EUR.
Reihe: Wirtschaftswissenschaften, Band 10.


Einführung in die Themenstellung

1998 erhielt der Volkswirt und Philosoph Amartya Sen den Nobelpreis für sein umfangreiches Werk zu entwicklungs- und sozialpolitischen Fragestellungen. Dennoch wurden seine Arbeiten in Deutschland sowohl in der Ökonomie als auch in der Sozialpolitik bisher wenig rezipiert. Neben der Unübersichtlichkeit seines Werkes mag dabei die irritierende Mischung aus formaler Beweisführung und teilweise fast naiv wirkenden Betrachtungen gesellschaftlicher Zusammenhänge ihren Anteil haben. Mit schlafwandlerischer Sicherheit umschifft Sen soziologische und psychologische Erkenntnisse, obwohl sich seine Untersuchungen immer mehr mit Fragen beschäftigen, die auch in deren Zentrum stehen.

Nachzuvollziehen ist insofern die Idee von Wolfgang Fellner, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter der Wirtschaftsuniversität Wien, die Erkenntnisse Amartya Sens soziologisch und psychologisch einzubetten und das Ökonomische im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie zu untersuchen. Das gewählte Teilgebiet, die Wohlfahrtsmessung, könnte dabei tatsächlich ein dankbarer Ausgangspunkt sein, ist doch die Nutzenmessung die Achillesverse der volkswirtschaftlichen Theorie.


Aufbau und Inhalt

Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit der Problematik der volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsmessung. Der Autor zieht die von Richard Estes geleitete Studie "The World Social Situation 1970–2000" hinzu, um aufzuzeigen, wie sehr sich das Bruttosozialprodukt unterscheiden kann von Wohlfahrtsmaßen, deren Indizes aus Indikatoren zu Kriminalität, Gesundheitswesen, zu Bildungsmöglichkeiten, Chancengleichheit der Geschlechter und zu anderen gesellschaftlichen Bereichen bestehen. Das Bruttosozialprodukt und das Pro-Kopf-Einkommen beschränken ihre Bewertungen nicht nur auf am Markt gehandelte Güter und Dienstleistungen, sie blenden auch Verteilungsśfragen, die Arbeit im Haushalt und die Schattenwirtschaft aus. Nach dieser Einführung in die Thematik besteht das Buch im Wesentlichen aus der Gegenüberstellung von zwei Veröffentlichungen zum Thema Lebensstandard. Die eine stellen die 1985 von Amartya Sen unter dem Titel "Der Lebensstandard" veröffentlichten Vorlesungen da. Dieser entnimmt Fellner im ersten Teil seiner Arbeit eine Kritik an der Wohlfahrtsmessung mittels des Nutzenansatzes – dem zweitwichtigsten volkswirtschaftlichen Wohlfahrtsmaß. Der andere Text ist das 1953 (!) veröffentlichte Buch "Standard of Living" des nahezu unbekannten finnischen Volkswirtes Hugo Edvard Pipping (1895–1975).

Der zweite Teil der Arbeit besteht aus einer Zusammenfassung der beiden Lebensstandard-Konzepte von Sen und Pipping. Sens Ansatz, Wohlstand über die Funktionalität einer Person – also über ihre Fähigkeit, bestehende Ressourcen in Lebensqualität umzusetzen – und über ihre Handlungsspielräume und Verwirklichungsmöglichkeiten zu erklären, wird anhand der Vorlesungen Sens und einiger zusammen mit ihnen erschienenen Texte kritisiert. Für Pipping stellt Lebensstandard ein Makro-Konzept dar, mit dem er das (Güter-)Nachfrageverhalten analysieren will. Zur Erklärung zieht er Konzepte wie Sitten, Gebräuche und Instinkte heran, betrachtet die soziale Gruppenbildung in Familie und Klasse, analysiert bestimmende Faktoren und definiert Teilstandards. Der dritte Teil der Arbeit besteht aus einer Gegenüberstellung der Entwicklungskonzepte der beiden Autoren.


Diskussion

Bereits die Idee des Buches, zwei Konzepte zu vergleichen, die eher zufällig die gleiche Bezeichnung "Lebensstandard" tragen, steht auf wackligen Füssen. "Lebensstandard" bezeichnet heute ein recht genau definiertes, objektives, output-orientiertes Wohlfahrtskonzept, das sich mit der Güterausstattung von Haushalten beschäftigt. Sen hat diesen Ausdruck Mitte der 80er auch nur vorübergehend in einer Phase der Neuorientierung verwendet. Schon bald bevorzugte er die Ausdrücke "Wohlergehen" (well-being) und "Lebensqualität", die an sich schon einen klaren Bezug zu aktuellen soziologischen und psychologischen Konzepten aufweisen und auf die Anschlussfähigkeit seiner Erkenntnisse zur Sozialberichterstattung und zum Konzept der Sozialindikatoren hinweisen. Die Kritik von Sen am Bruttosozialprodukt ist dabei viel umfassender, als die vom Autor angeführte. Auch Pipping, dessen Arbeit eine konzeptionelle Nähe zur heutigen Konsum- und Lebensstilforschung aufweist, verwenden das Wort Lebensstandard in einer anderen als der heute üblichen Bedeutung.

Die Umdefinition des Begriffes "Lebensstandard" und sein Verhältnis zum Begriff "Lebensqualität" bleiben dem Autor, der sich bei der Definition seiner Begriffe auf zweizeilige Brockhaus-Artikel bezieht und sie damit in ihrer Geschichtlichkeit unterschätzt, aber unklar. Dies verursacht nicht nur Konfusion[1] und führt zu definitiv falschen Aussagen[2], sondern verstellt ihm auch den Zugang zur aktuelleren Lebenslagen- und Lebensqualitäts-Forschung.

Diese Konfusion setzt sich dann in anderen Teilen der Arbeit fort. Eine Untersuchung, die sich mit Wohlfahrtmessung "im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie" beschäftigt, müsste sich mit dem Verhältnis von objektiven und subjektiven Kriterien beschäftigen, mit dem Verhältnis von Handlungsbedingungen, Handlungszielen und Strukturen, mit der Verteilungen von Ressourcen sowie mit dem Verhältnis von volkswirtschaftlichen Mikro- und Makro-Größen. Dass hierüber keine Klarheit besteht, zeigt der Autor auch bei der Formulierung seiner Forschungsfragen. "Die Forschungsfrage besteht also darin, eine Erklärung für die Entstehung, Entwicklung und Struktur der Präferenz (Wertobjekte, Bedürfnisse) zu finden. Diese kann in der Folge als Ausgangspunkt für ein Maß der Zielerreichung in der Ökonomie genommen werden" (65). Sieht man einmal davon ab, dass eine Forschungsfrage nicht aus einer Erklärung bestehen kann, so fragt man sich doch, wieso die Entstehung der Präferenz den Ausgangspunkt für ein Maß der Zielerreichung sein soll. Prinzipiell sind subjektive Wohlfahrtsmaße möglich, ihre soziale Bedingtheit stellt aber gerade ein Problem für die Entwicklung eines Wohlfahrtsmaßes da, da selbst Menschen in widrigen Lebensbedingungen Zufriedenheit entwickeln (können). Die Bedingungen der Präferenzen weisen zwar auf einige strukturelle Makro-Größen hin, die bei Wohlfahrtsmaßen eine Rolle spielen können, die Wohlfahrt "versteckt" sich aber auch in Verteilungen verschiedener Ressourcen und in sozialstaatlichen Institutionen. Genau das hat – auf internationaler Ebene – Sen in den folgenden 20 Jahren herausgearbeitet, genau das beschäftigt die Sozialberichterstattung und die Sozialstaatsbeobachtung.

Wenn der Autor bei der Analyse von Sen zu dem Schluss kommt, dass "eine Person, die von einer Vielzahl externer Faktoren in ihren Entscheidungen und Möglichkeiten abhängig ist, nicht mehr als autonom bezeichnet werden" (97) kann, und folgert "Sens Verdienst darin besteht darin, Lebensqualität nicht auf rein materielle Aspekte zu verkürzen" (98), dann ist das nicht nur reichlich knapp und banal, sondern missachtet darüber hinaus die gesamte Entwicklung Sens der letzten 20 Jahre. Dass hier dem Autor etwas entgangen ist, darauf weisen auch die wenigen Sen-Quellen in der ohnehin sehr kurzen Bibliographie hin.

Pippings Arbeit könnte man in seiner Bedeutung als Werk der Nachkriegszeit würdigen, Fellner tut aber so, als handle es sich um den letzten Schrei. Die Zusammenfassung der Arbeit Pippings, die einen Großteil des Buches ausmacht, ist kursorisch bis unverständlich; das name-dropping heute unbekannter Namen sowie das term-dropping völlig unverdauter Gedanken aus zweiter Hand wird hier unerträglich.

Die Arbeiten von Sen und Pipping bleiben völlig unverbunden nebeneinander stehen und werden nicht weiterentwickelt. Das gilt auch für die wenigen Punkte, an denen sich beide Texte treffen, wie beispielsweise die Problematisierung des Nutzenbegriffs.

Tatsächlich müssten für die Bearbeitung der Problemstellung des Buches "Das Ökonomische im Spannungsfeld von Soziologie und Psychologie" andere Wege gegangen werden: Sens Beschreibung von Freiheit und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen als Vergrößerung von persönlichen Handlungsspielräumen (anstelle der Optimierung des Wachstums des Bruttosozialśprodukts) bietet Anknüpfungspunkte an die Lebenslagen-Forschung und die Soziologie sozialer Ungleichheit. Sozialindikatoren, die Lebenslagen beschreiben und in der Armutsberichterstattung verwendet werden, können an (sozial)psychologische Konzepte wie erlernte Hilflosigkeit, Motivation, Coping und Empowerment anschließen. Die sozialstaatliche Umverteilung über Steuern, Transfers und so genannte öffentliche Güter, die große Auswirkungen auf Art und Verteilung von Konsum und Investitionen hat, kann durch Ländervergleiche evaluiert werden.


Fazit

Das Buch hält nichts von dem, was der Titel verspricht. Aktuelle soziologische und psychologische Erkenntnisse haben in diesem Buch keinen Platz; ein Spannungsfeld zwischen Soziologie und Psychologie wird nicht erzeugt. Tatsächlich besteht es aus wenig mehr als aus den Zusammenfassungen der beiden vom Autor bearbeiteten älteren Texte, die in keinem Verhältnis zur aktuellen Forschung stehen. Die sozialpolitischen Implikationen von Sens Denken wurden nicht verstanden, weil die Entwicklung seiner Arbeiten hin zu soziologischen Fragestellungen nicht erkannt wurde. Das mag auch an dem geringen Umfang der bearbeiteten Literatur liegen. Ein Buch über Sen und Pipping sollte sich nicht mit acht Quellen von diesem und zwei Quellen von jenem zufrieden geben. Dem unübersichtlichen Werk Sens nähert man sich besser über seine Publikation "Ökonomie für den Menschen" (dtv (München) 2005), welches das bis dahin entstandene Werk allgemeinverständlich zusammenfasst oder über den von Jürgen Volkert herausgegebenen Sammelband "Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen" (VS-Verlag (Wiesbaden) 2005). Wer sich für die historische Darstellung Pippings interessiert, liest besser das Original.

Dennoch eröffnet das Buch eine interessante Perspektive: Wir können an ihm sehen, wie schwer sich ökonomisches Mainstream-Denken mit der Integration sozialer Inhalte in ihr Denkgebäude tut. Aber auch das kann man leichter haben – und einfach am Bundespräsidenten Köhler beobachten.

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[1] "Um verschieden Vorstellungen, was unter Lebensqualität zu verstehen ist , von den Lebensverhältnissen selbst abgrenzen zu können, bedarf es einer begrifflichen Trennung. Lebensstandard bezieht sich... auf ein theoretisches Konzept, das zu klären versucht, was unter Lebensqualität zu verstehen ist" (67).

[2] "Bei Amartya Sen hingegen gibt es nur einen Lebensstandard, der für alle Menschen gilt. Er trifft daher keine begriffliche Unterscheidung zwischen Lebensqualität und Lebensstandard" (67).



Die Rezension ist zuerst erschienen unter: www.socialnet.de/rezensionen/3443.php


Alban Knecht
Im April 2006




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